Naturschutzrelevante Gutachten in Bayern
Artenhilfsprogramm Campanula cervicaria - neue Ansätze zur Stützung von Populationen und deren Auswirkungen auf die genetische Variation
Zusammenfassung
Die Borstige Glockenblume Campanula cervicaria gehört zu den in Bayern besonders stark gefährdeten Pflanzenarten und kommt nur noch an wenigen Wuchsorten mit oft sehr kleinen Populationen vor. Der Stützung dieser Populationen kommt für die langfristige Erhaltung der Art eine hohe Bedeutung zu. Für eine derartige Populationsstützung müssen Individuen ex situ vermehrt und anschließend in die Populationen eingebracht werden. Dafür gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten: entweder es werden Individuen verwendet, die nur aus dem Saatgut der betreffenden Populationen angezogen wurden oder es werden gezielt Individuen eingebracht, die aus dem Saatgut anderer, benachbarter Populationen angezogen wurden. Die Einbringung von Individuen aus Saatgut der zu stützenden Population bewirkt eine Zunahme der Populationsgröße und damit eine Erhöhung der genetischen Variation ohne die Differenzierung zwischen den betreffenden Populationen in großem Umfang zu verändern. Die Stützung der Population mit Individuen aus Saatgut von einer anderen Population „genetic rescue“ bewirkt im Gegensatz dazu eine weitreichende Veränderung der genetischen Variation, sowohl inner-halb als auch zwischen den beteiligten Populationen. Dies kann insbesondere dann sinnvoll sein, wenn die Populationsgröße bereits sehr niedrig ist und die Population unter starker genetischer Verarmung bzw. Inzucht leidet. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde anhand eines Kreuzungsexperiments mit Individuen von Campanula cervicaria untersucht, welchen Einfluss die Einbringung von Fortpflanzungsmaterial aus unterschiedlichen Spender-Populationen auf die genetische Variation und die Fitness einer zu stützen-den Empfänger-Population haben kann. In das Kreuzungsexperiment gingen insgesamt 5 Populationen von C. cervicaria ein. Aus im Feld entnommenem Saatgut wurden zunächst von jeder der aus-gewählten In-situ-Populationen Pflanzenindividuen ex situ angezogen Ex-situ-Populationen. Je fünf dieser Individuen aus der Population P5 Empfänger-Population wurden dann mit je 5 Individuen aus den Populationen P1, P2, P4 und P6 Spender-Populationen durch die Übertragung von Pollen gekreuzt. Aus dem bei der Kreuzung entstehenden Saatgut wurden dann wiederum Pflanzenindividuen angezogen F1-Kreuzungspopulationen. Mit Hilfe molekularer Marker AFLPs wurde anschließend die genetische Variation innerhalb und zwischen den Ex-situ- und F1-Kreuzungspopulationen verglichen, um zu klären welche Auswirkungen die Kreuzung auf das Ausmaß der genetischen Variation hatte. Um den Einfluss der Kreuzung auf die Fitness der Nachkommen zu untersuchen, wurden außerdem Daten zu ausgewählten morphologischen Fitnessparametern Pflanzenhöhe, Anzahl der Blüten, Länge des größten Rosettenblattes an Individuen aus den In-situ-Populationen, den Ex-situ-Populationen und den F1-Kreuzungspopulationen erhoben. Die im Rahmen der Analyse erhobenen Daten ergaben eine signifikante und starke Erhöhung der genetischen Variation innerhalb der Populationen aufgrund der Kreuzung. So war die genetische Variation innerhalb der F1-Kreuzungspopulationen im Durchschnitt etwa 1,5 Mal höher wie in den entsprechenden Ex-situ-Populationen. Die Einbringung von Erbgut aus anderen Populationen führte jedoch gleichzeitig zu einer starken Veränderung der genetischen Variation zwischen den Populationen. So betrug die mittlere molekulare Varianz ΦPT zwischen den Ex-situ-Populationen und den zugehörigen F1-Kreuzungspopulationen 0,25. Die genetische Differenzierung zwischen der F1-Kreuzungspopulation und der Ex-situ-Spender-Population war dabei deutlich größer 0,33 als zwischen der F1-Kreuzungs-population und der Ex-situ-Empfänger-Population 0,19, was bedeutet, dass die F1-Kreuzungspopula-tionen den Mutterpflanzen genetisch ähnlicher waren als den Bestäuberpflanzen. Die Ergebnisse der Netzwerk- und Bayesischen Clusteranalysen unterstützten diesen Befund. Die vorliegenden Ergebnisse belegen, dass die Einbringung von Material aus Spender-Populationen die genetische Variation innerhalb einer Empfänger-Population deutlich erhöhen kann. Die oft postulierte, mit einer Einbringung einhergehende Erhöhung der Fitness konnte jedoch nicht beobachtet werden. So lagen die Werte für die Pflanzenhöhe, Blütenanzahl und die Länge des größten Rosettenblattes in den F1-Kreuzungspopulationen aufgrund der niedrigeren Fitness der Ex-situ-Spender-Populationen so-gar unter der Fitness der Ex-situ-Empfänger-Populationen. Betrachtet man nur die Ebene der genetischen Variation, so erscheint ein „genetic rescue“ bei Cam-panula cervicaria sinnvoll, da die Einbringung von genetischem Material zu einer Erhöhung der gene-tischen Variation geführt hat. Die Veränderung des Differenzierungsmusters zwischen den Populationen ist zwar nicht erstrebenswert, kann aber wohl toleriert werden, da die Art auch in situ kein ausgeprägtes geographisch-genetisches Muster keine Korrelation geographischer und genetischer Distanzen aufweist. Darüber hinaus verfügt sie als bienne Art über eine Lebensweise, die weitgehend einer Metapopulationsstrategie folgt, was die Schaffung neuer, genetisch variabler Populationen durch die Mischung von Material aus benachbarten Populationen vorstellbar erscheinen lässt. Bezieht man in die Betrachtung jedoch auch die Ebene der Fitness ein, so erscheint die Einbringung von genetischem Material aus anderen Populationen nicht sinnvoll. In der vorliegenden Studie wies die relativ kleine Empfängerpopulation eine höhere Fitness auf als die in der Regel deutlich größeren Spenderpopulationen. Konsequenterweise führte die Einbringung von genetischem Material aus diesen Populationen daher nicht zu einer Zunahme der Fitness, sondern sogar zu ihrer Abnahme. Auf eine Stützung kleiner Populationen mit Material aus anderen Populationen sollte daher verzichtet werden, wenn nicht vorher deren Fitness analysiert wurde. Stattdessen ist die Einbringung von Individuen, die aus dem Saatgut der betreffenden Population angezogen wurden, die empfehlenswerte Vorgehens-weise zur Populationsstützung. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen die bereits postulierte Bedeutung eines gene-tischen Monitorings im Artenschutz, welches die erfolgreiche Durchführung von Populationsstützungen und Ansiedlungungen erleichtert. Dieses Monitoring sollte auch nach Durchführung der Maßnahmen fortgeführt werden, um ihren Erfolg zu validieren.
Erstellt am: 30.01.2023